Recruiter missverstehen die Situation der Kandidaten.

Recruiter in Unternehmen greifen heute gerne zur Vorgehensweise des „Aktive Sourcing“, das heisst der Suche nach Kandidaten über Social Networks und  Kandidatenbanken. Sie wissen, dass bei schwierig zu besetzenden Positionen die Ausschreibung über Anzeigen in Job-Banken oder Printmedien wenig bis nichts bringen und trotzdem eintreffende Kandidaten meist nur Arbeit, kaum Erfolg ergeben. Deshalb wird in XING, Linkedin, Facebook, Instagram und in Kandidatenbanken nach Lebensläufen gesucht, welche dem Anforderungsprofil entsprechen. Die entsprechenden Kandidaten werden angeschrieben oder antelefoniert und ihnen werden die Vorteile der zu besetzenden Position überaus positiv dargestellt.
Kandidatengewinnung durch direkte Ansprache ist nicht so einfach, wie sich das Personalgewinner vorstellen. Die Kandidaten haben ganz anderen Voraussetzungen, als Kandidaten, die sich auf eine Anzeige beworben haben. Anzeige-Kandidaten sind auf der Suche und nehmen in Kauf, dass von ihnen viel verlangt wird. Sie müssen eine perfekt aufgemachte Bewerbung abgeben, sie müssen zu vorgegebenen Terminen für Interviews bereitstehen, sie müssen Terminverschiebungen akzeptieren, sich schon telefonisch unangenehme Fragen gefallen lassen, den Recruiter akzeptieren, obwohl er ihnen unsympathisch ist usw. Kandidaten auf Anzeigen gehören zur Manipulier-Masse. Sie wollen etwas, als kann man mit ihnen nach eigenen Massstäben umgehen. 
Ganz anders bei direkt angesprochenen Kandidaten. Sie sind im Prinzip mit ihrer Aufgabe zufrieden. Klar gibt es in jeder Aufgabe auch Momente oder Situationen, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen. Aber das sind keine Gründe dafür, den „Bettel hinzuschmeissen“. Entsprechend sind direkt angesprochene Kandidaten vorsichtig, eher abwehrend, kritisch gegenüber den Aussagen des Recruiters und sie durchschauen schnell Versuche Motivation und Manipulation. Auf blumig dargebotene Angebote fallen sie

nicht hinein. Sie bieten sich nicht an, sondern sie fordern.
Für Recruiter, die sich sonst mit Anzeigen-Kandidaten beschäftigen, ist diese Umstellung schwer zu vollziehen. Sie verändert Arbeitsabläufe, Kommunikation und vor allem die Haltung und Einstellung gegenüber Kandidaten. Hat der Recruiter bei Anzeigen-Kandidaten mit Bittstellern zu tun, wird er bei Kandidaten mit Direktansprache selber zum Bittsteller. Das ist ein ähnlicher Wechsel, wie vom Einkäufer zum Verkäufer. Nur wenige schaffen diesen Wechsel. Er ist aber absolut notwendig, wenn mit Direktansprache Erfolg erreicht werden soll.
Zudem muss sich ein Recruiter bei Direktansprache sehr auf die Situation eines möglichen Kandidaten einstellen. Zur Situation gehört dessen Aufgabenbereich, Kommunikationsumfeld, Wichtigkeit, Produkt, Markt, seine Loyalität und die Kultur seines Arbeitgebers. Dazu braucht es enormes Einfühlungsvermögen, viele Kenntnisse, Behutsamkeit, Diplomatie und die Bereitschaft, jede Bemerkung, jedes Vorurteil, jeder Hinweis ernst zu nehmen und die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Ein Recruiter, der sich nicht auf die Situation von Kandidaten bei einer Direktansprache einstellen kann, hat frühestens schon im ersten Telefongespräch ein Misserfolg, spätestens nach dem Kandidaten-Interview in der Firma.
Zwischen 2007 und 2014 haben viele, vornehmlich grössere Unternehmen ihre Recruiting-Teams aufgestockt, um über Aktive-Sourcing neue Mitarbeiter zu gewinnen. Diese Anstrengungen sind in den letzten zwei Jahren rückläufig geworden. Betriebswirtschaftlich ist erkannt worden, dass der Aufwand für eigenes Aktive-Sourcing sehr hoch ist und dass mit externen Dienstleistern, welche Direktansprache betreiben, ein besseres Kosten-Erfolgs-Ergebnis machbar ist. Zumal externe Dienstleister für ein festes Honorar solange arbeiten, bis die vakante Position besetzt ist, während sich der interne Aufwand kumuliert.  jb