Wie „Wir-Leistung“ als „Ich-Leistung“ ausgegeben wird
Vor mir liegt das Curriculum Vitae eines Managers. In den letzten 14 Jahren war er in 8 verschiedene Positionen tätig. Bei jeder Stelle hat er „seine“ Erfolge aufgeführt:
– Umsatz von 18 Mio. auf 22 Mio. gesteigert
– EBIT um 18% verbessert
– Neue Produktlinie eingeführt
– Ankauf einer Konkurrenzfirma
Da stellen sich Fragen. Beispielsweise nach dem „Weshalb“ der vielen Wechsel. Oder nach dem Wahrheitsgehalt der Angaben. Und die wichtigste Frage ist immer die gleiche: Was gibt ihm das Recht, den Erfolg als „seinen“ Erfolg auszuweisen? Ist Erfolg nicht immer eine Frage der Gegebenheiten und der Menschen um ihn herum? Was hat er angetreten, was hat er verlassen?
Ganz allein erreicht niemand eine Spitzenleistung. Immer sind helfende Mitmenschen, Mitstreiter und Unterstützer da. Jedes Individuum ist vernetzt. Die Bedeutung des Individuums ist vom Netz und dessen Wirkung abhängig. Doch, ist sich das der erfolgreiche Mensch bewusst? Weiss er, dass sein Erfolg vielleicht nur zu 5% seinen Fähigkeiten zuzuschreiben ist? Sicher war Schumi ein etwas besserer Formel 1 – Pilot, als die andern, aber ohne sein Rennteam, das ihm ein optimales Fahrzeug, eine tolle Strategie und schnelle Boxenhalte gewährte, wäre kein derart überwältigender Erfolg möglich gewesen. Schumi war sich dessen bewusst und hat immer sein Team am Erfolg teilnehmen lassen.
Sind sich das die Manager auch bewusst? Das Managerkarussell dreht sich und sicher ist der eine Manager etwas besser als der andere. Aber kommt es nur auf ihn an? Ist nicht viel mehr die Gesamtleistung aller Beteiligten für den Erfolg massgebend? Vielleicht schlummern noch bessere Managementtalente in den Reihen der Mannschaft, die bisher ihr Können nicht ins Licht stellen konnten.
Es darf angenommen, dass viele Manager ihre eigene Leistung am Gesamterfolg
überschätzen. Für diese Annahme gibt es folgende Fakten:
– Das Ergreifen von Massnahmen, die das Kollektiv empfindlich treffen, sobald Umsatz und Ertrag sinken.
– Das Abschieben von Misserfolgen auf andere. Andere versagen im Kollektiv, nicht er selber.
– Die Unterdrückung des Kollektivs durch den Anspruch, ich bin der Chef.
Das sollen keine Anklagen an Manager sein, sondern nur die Darstellung der ganz normalen menschlichen Unfähigkeit, im „Wir“ statt im „Ich“ zu denken. Nicht nur in der Wirtschaft ist dies so, sondern in allen Disziplinen menschlicher Verbindungen. Wie wird doch in der Musik der Dirigent gefeiert. Allerdings habe ich vor kurzem ein grosses Orchester (60 Mitwirkende) gehört, das in Wiener Tradition ohne Dirigenten gespielt hat. Der erste Geiger gab den Auftakt, nachher spielte das Kollektiv in wundersamer Übereinstimmung weiter. Es ging auch ohne Vortänzer in voller Perfektion.
Führung in der Wirtschaft verändert sich von der Befehlsverantwortung in eine Koordinationsfunktion. Die vom Militär übernommene Organisation der Menschenführung wird je nach wirtschaftlicher Tätigkeit langsam ersetzt durch Funktionen und Ziele, die von Individuen übernommen werden. In einem „Wir“ hat jeder seine Funktion und alle sind gemeinsam verantwortlich für ein gutes Resultat. Begonnen hat der Wechsel in der Software-Branche und in Forschungs- und Entwicklungsunternehmen. Er hält kontinuierlich in anderen Branchen Einzug. Jungmanager treten heute schon Führungsaufgaben wesentlich kollegialer an, als konservative Manager, die der Ansicht sind, sie müssten ihren Mitarbeitern genauestens vorschreiben, was sie zu tun hätten.
Vielleicht finden wir irgendwann im CV eines Managers den Hinweis: Ich habe mitgeholfen, dass wir den Umsatz um 20 % steigern konnten. jb