Unterforderung am Arbeitsplatz.

Trifft man einen Bekannten und fragt: „Wie geht’s Ihnen?“ erntet man leidende Blicke, nervöse Gesten und die Antwort: „Viel zu viel Arbeit“! Liest man die Zeitung, stösst man überall auf das Thema „Burn out“. Es scheint, dass sich der arbeitende Mensch ständig an der Grenze zur Überforderung bewegt. Hektik, Termindruck, Nervosität und haufenweise Probleme scheinen bei allen Berufstätigen zur Norm zu gehören. Und in diesem Umfeld behauptet Herr Martin-Niels Däfler, Professor für Kommunikation an der FOM Hochschule Frankfurt am Main, dass 31,2% aller Berufstätigen unterfordert seien. Und nur 8,4% bezeichnen sich als überfordert. Wie passt das zusammen?

Das Gute an dieser Umfrage zuerst: 60,4% der Berufstätigen sind weder unter- noch überfordert und haben ausgesagt, dass sie sich genau richtig gefordert fühlen. Das ist die Mehrheit. Also darf angenommen werden, dass unternehmensseitige Anstrengungen bezüglich Arbeitsplatzorganisation fruchtbar sind. Überforderte machen weniger als 10% aus. Überforderung ist nicht von der Arbeitsmenge abhängig. Eine grosse Arbeitsmenge kann bewältigt werden, wenn der Mensch dafür motiviert ist. Überforderung entsteht zumeist dann, wenn Aufgaben den Menschen inhaltlich überfordern, ihn zu schnellen Entscheiden zwingen, ihn zu Stellungsnahmen fordern, zu denen er nicht aus vollem Herzen stehen kann. Oder wenn er zur Aufgabenlösung nicht das notwendige Wissen und Können hat, das aber nicht zugibt. Unsicherheit in der Aufgabenlösung zwingt zu Mehrarbeit, zu Kompromissen, zu permanenten Korrekturen. Überforderung zeigen auch die Perfektionisten, die alles ganz genau haben wollen. Bei ihnen wird nie etwas fertig, weil alles immer noch verbessert werden kann. Das sind die eigentlichen Gründe für Überforderung.

Unterforderte machen fast ein Drittel aller Berufstätigen aus. Erstaunlich, wenn man die vielen Anstrengungen der Wirtschaft zur Effizienzsteigerung betrachtet. Aber auch hier gilt es, die Gründe näher zu betrachten.

  1. Unterforderung entsteht, wenn ein Mensch zu lange in derselben Aufgabe beschäftigt ist. Dann wird die Aufgabe zur Routine, der Reiz des Neuen ist weg, was vorher 8 Std. pro Tag interessant war, wird in 6 Std. erledigt und der Rest ist Langeweile.
  2. Unterforderung entsteht, wenn High Potentials Routinearbeiten erledigen müssen, die ihnen nichts abverlangen.
  3. Unterforderung entsteht, wenn organisatorische Änderungen zu Aufgabenverlagerungen oder Aufgabendezimierungen führen, ohne dass für das Individuum ein Ausgleich erfolgt.
  4. Unterforderung entsteht durch die persönliche Entwicklung des Individuums, das nach Weiterkommen strebt, aber nicht entsprechend ausgelastet wird.

Dass in Unternehmen ein grosses Potential an Mehrleistung vorhanden wäre, das nicht genutzt wird, zeigt sich auch darin, dass viele Unternehmen einen Personalabbau durchführen können, ohne die Marktleistung vermindern zu müssen.

Unter- oder Überforderung an jedem Arbeitsplatz in Waage zu halten, ist eine Kunst und eine sehr individuelle Sache. Nur wenige Menschen sind so ehrlich zuzugeben, dass sie unterfordert sind. Ihre Angst, danach überfordert zu werden, ist gross. Deshalb wird auch der unterforderte Mensch sich so gestresst geben, als sei er nahe an einem Burn out. Abhilfe kann nur ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zwischen Chef und Mitarbeiter bieten. Im gegenseitigen Vertrauen sind Aufgaben optimierbar und Menschen besser auslastbar. Zwei Vorstellungen von den Aufgaben eines Arbeitsplatzes müssen vereint werden, die Sicht des Mitarbeiters und diejenige des Chefs. Vereinen heisst, eine Win-Win-Lösung zu finden, mit der sich beide identifizieren können. Sogenannt „durchsetzungsstarke“ Chefs, die nur ihre eigene Sicht realisieren wollen, erzeugen Frust und veranlassen die Betroffenen, in noch grössere Hektik und scheinbare Überlastung zu verfallen.     jb